Wollen wir wetten?
Diese Worte stehen mitunter am Beginn spannender Abenteuer. Karl-Heinz war ein Jugendfreund.
Wir haben viel gemeinsam unternommen. Wenn wir zusammen irgendwohin zu Fuß gingen,
lief Karl-Heinz immer vornweg. Ich war ihm meist zu langsam.
Falls die zu überbrückenden Strecken allerdings etwas größer wurden, stellte ich fest,
dass ich dann den längeren Atem hatte.
Wo bleibst Du nur, hänselte ich dann. Komm, hab Dich nicht so, meistens muss ich auf Dich warten,
war die harsche Antwort.
So ergab ein Wort das andere und ich machte mir schließlich Luft,
indem ich leichtsinniger weise herausplatzte,
dass ich hier von Leipzig aus bis ins Erzgebirge laufen würde und das mit gleichbleibender Geschwindigkeit.
Er hingegen lege nur einen kurzen Sprint hin und wäre dann schnell sauer.
Das ging so noch eine ganze Weile hin und her, bis ich schließlich eine folgenschwere Wette anbot.
Die Modalitäten
handelten wir in einer Gastwirtschaft aus. Die Route war Leipzig-Neundorf.
Neundorf ist ein kleines Dorf kurz vor Annaberg-Buchholz.
Dort lebten meine Großeltern und die Familie meines großen Bruders.
Die Entfernung beträgt 125 km.
Für die gesamte Strecke sollte ich 30 Stunden bekommen, wie ich Pausen einrichten wolle,
bliebe mir selbst überlassen.
Es wurde ein Wetteinsatz von 50 Mark ausgehandelt.
Das war für einen 17 jährigen, der mit seiner Berufsausbildung noch nicht fertig war, viel Geld.
Mit meiner Schwägerin und meinem Bruder hatte ich noch abgeklärt,
dass mein Freund und ich drei Wochen Urlaub bei ihnen machen würden.
Termin war pünktlich zum Ferienbeginn.
Karl-Heinz behielt sich vor, die Aktion zu kontrollieren,
indem er mit seiner 'Schwalbe' unerwartet auf der F95 aufkreuzen würde.
Im Grunde vertraute er mir jedoch in meiner abgedrehten Art.
Ich hatte ohnehin nicht im Sinn, zu tricksen, weil ich mir die Sache schließlich selbst beweisen wollte.
Der Start
meiner 'Wanderung' war an einem Montag Morgen um 9:00 Uhr. Gepäck hatte ich keines dabei,
sondern nur einen soliden Stockschirm und eine sogenannte 'Natoplane'.
Diese blauen, ja so eine Art dünne Mäntel waren damals Mode.
Fast jeder hatte solch ein hässliches, jedoch praktisches Teil.
Verpflegung hatte ich wegen des Gewichtes keine dabei,
wenn man von sechs Rollen Dextropur (Traubenzuckertabletten) absieht.
Das Wetter
war gut und ich frohen Mutes. Zum Nachvollziehen der Situation sei erwähnt,
dass 125 km in 30 Stunden lediglich durchschnittlich ca. 4 km/h bedeuten.
Das hört sich gar nicht so schlimm an. Ich legte einen ordentlichen Schritt vor,
natürlich ohne mich zu verausgaben und kam anfänglich auf ein Tempo so zwischen 7 und 8 km/h.
Auf lockeres Ausschreiten und gleichmäßige Atmung musste ich nicht mehr achten.
Es lief wie von alleine. Der Kopf wurde frei, ja wirklich, es ist so, wie man sagt.
Beim Gehen wird der Kopf frei.
Kurz vor Borna
hielt ein Toni neben mir. Nicht das noch, die rauben mir nur Zeit.
Man muss an dieser Stelle, so glaube ich, erwähnen, dass die F95 – heute B95 eine Landstraße war,
auf der man auch laufen durfte,
und zwar auf der linken Seite in Richtung des entgegenkommenden Straßenverkehres.
Die Volkspolizisten hatten daran auch nichts auszusetzen.
Den Personalausweis bitte,
waren die Worte, welche ich deutlich neben mir vernahm. Die Polizisten vermuteten, ich sei irgendwo abgehauen.
Als sie mich dann fragten,
wohin ich denn wolle und was ich vorhabe, war für mich völlig klar, hier geht nur frontal.
In meiner freundlichen und lockeren Art erklärte ich ihnen ganz einfach die Wahrheit.
Die war ja nun derart bizarr,
dass ich entweder verrückt sein musste oder die Sache entsprach wirklich den Tatsachen.
Nachdem sie dann über Funk abgeklärt hatten, dass ich nicht vermisst wurde,
konnte ich weiter ziehen. Mit einem halb ungläubigen,
halb schelmischen Lächeln verabschiedeten sie mich mit den ermahnenden Worten,
ich solle immer schön links gehen und auf den Straßenverkehr achten.
Die ganze Aktion
hat nach meiner heutigen Erinnerung nicht lange gedauert.
Ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht eine Viertelstunde.
Im nächsten Ort winkte mir der ABV mit einem verschmitzten Lächeln zu, da war für mich klar,
die haben den informiert, mir haben sie nun geglaubt und jetzt machen sie sich über mich lustig.
Besser konnte es doch gar nicht kommen ...
Langsam bekam ich Hunger.
Dextropur hatte ich reichlich gegessen.
Ich fühlte mich noch recht fit und kehrte am Nachmittag in Frohburg ein.
Ich gab mir nur 15 bis 20 Minuten.
Nach einer Portion Hackepeter und einem Gang auf die Toilette ging es weiter.
Jetzt allerdings dauerte es ca. 5 Minuten, ehe ich wieder in Tritt kam.
Bis zur Dunkelheit wollte ich möglichst nahe an Chemnitz heran kommen und dort eine längere Pause einlegen.
Übrigens, meine Großeltern haben immer Chemnitz gesagt, an Karl-Marx-Stadt konnten sie sich nie gewöhnen.
Penig lag hinter mir
und es wurde langsam dunkel. Chemnitz musste ich erreichen, ehe die Kneipen zumachten.
Würde ich jetzt lockerlassen, bekäme ich zum Ende hin Probleme.
Man kann sich wahrscheinlich vorstellen, was das für ein Gefühl ist,
wenn man in der Ferne die Lichter der Stadt sieht.
Es ist dann immer noch ziemlich weit bis man dort ist, aber man sieht das Ziel eben schon mal.
Mit Ach und Krach
habe ich noch eine Gastwirtschaft entern können, jedoch nach Küchenschluss.
Mein Betteln half, ich bekam eine kalte Bockwurst und ein Brötchen.
Hier sollten meine müden Glieder nun wenigstens eine halbe Stunde Ruhe finden.
Als ich nach dieser Pause aufstand,
ging es wirklich beschwerlich und nur im wahrsten Sinne quietschend voran.
Mir taten nicht nur die Muskeln weh, sondern es brannten mir die Fußsohlen.
Jetzt brauchte ich lange, ehe ich wieder in einen inzwischen langsameren Laufrhythmus kam.
Was jetzt folgte,
war der schwierigste, nein grausamste Teil der Wanderung.
Man stelle sich vor, ich habe mir im Kopf meine einzelnen zu überbrückenden Abschnitte eingeteilt.
In etwa nach dem Motto, erst bis Chemnitz und dann von Chemnitz aus weiter.
Zwar nicht völlig vergessen, jedoch absolut unterschätzt hatte ich die Strecke durch diese Stadt hindurch.
Die ewig lange Leipziger Straße und dann noch die elende Annaberger Straße.
Das wollte kein Ende nehmen.
Hinzu kam meine Müdigkeit und der nicht zu unterschätzende psychologische
Effekt der vorüber fahrenden Straßenbahnen. Man müsste nur einsteigen.
Ich gebe ehrlich zu, hier wäre ich fast schwach geworden.
Mich hat nur der Gedanke gerettet, wie ich mir wohl dann vorkäme.
Erreichbare Zwischenziele
machen, das war jetzt angesagt.
Am Ende der Annaberger Straße geht es den Berg hinauf.
Dort könne ich die Lichter der Stadt von oben sehen.
Das war doch ein Ziel. Als ich dieses Ziel erreicht hatte,
war ich zunächst einmal glücklich.
Kurz darauf aber war das nächste Buswartehäuschen meines und ich legte
mich auf die Holzbank und schlief sofort ein.
Lange habe ich nicht geschlafen.
Die Bank war hart, und selbst im Sommer wird es gegen früh morgens kalt.
Der Körper konnte sich also nur den Schlaf nehmen, den er unbedingt brauchte.
Es waren wohl so etwa zwei Stunden. Als ich wieder aufwachte, war rundherum alles klamm.
Die Gliedmaßen waren steif und es durchzog mich ein zittriges,
klappriges Gefühl. Das Beste wird sein, ich laufe langsam los.
Was soll ich sagen, nach ein paar Metern hörte das klapprige Gefühl auf und es lief besser,
als ich gedacht hatte. In diesem Moment kam der positive Effekt hinzu,
dass ich in den Tag hinein lief.
Ich erlebte das Erwachen der Natur und meine Füße wussten ohnehin genau, was sie zu tun hatten.
Die zweite Luft
war das, was ich jetzt spürte.
Ich erinnerte mich in diesem Moment an Erzählungen meines Vaters aus dem Krieg.
Er hatte mir erklären wollen und ich habe es mir nicht vorstellen können,
dass er und seine Kameraden sich beim Laufen ausgeruht hätten.
Ich will nun um Gottes Willen meine Wanderung nicht mit den Kriegserlebnissen meines Vaters vergleichen,
jedoch habe ich bei meiner Tour zumindest verstanden, was er meinte.
Ich fühlte das Laufen kaum noch, nicht ich lief, sondern es lief.
Man sagt wohl, dass der Körper irgendwelche Stoffe ausschüttet, die das bewirken.
Na mir sollte es recht sein.
Eine schwierige Passage
war nochmal diejenige durch Burkhardtsdorf hindurch.
Dort geht es relativ steil bergab, damals über eine gepflasterte Straße.
Da brannten die Fußsohlen wieder, den Berg hinab zu laufen war schwieriger als hinauf.
Das kommende Nahziel
sollte das Erreichen von Ehrenfriedersdorf bis um 9:00 Uhr sein,
also die 24-Stunden-Marke. Als ich das geschafft hatte, wusste ich,
es kann mir fast nichts mehr passieren. Kurz vor dem Ende kann es noch einmal schwierig werden.
Ich stellte mir vor, dass ich 20 km über Neundorf hinaus laufen müsse.
Diese Vorstellung gab mir einen zusätzlichen Schub.
Auch wenn ich die letzten Meter gestützt auf dem Stockschirm lief,
so saß ich doch zum Mittagsläuten bei meiner Großmutter am Tisch.
Karl-Heinz war schon da. Er hat mir übrigens nie verraten, wann er an mir vorbeigefahren ist.
Nach dem Essen
fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Meine Oberschenkelmuskulatur war richtig heiß gelaufen.
Man kann sich das kaum vorstellen, aber ich hatte nach dem Erwachen keinerlei Muskelkater.
Nur meine Fußsohlen brannten. Was ich allerdings verspürte, das war so eine Art Laufzwang.
Das ging aber vorbei,
als ich mit Karl-Heinz drei Tage später in ein 20 km entferntes Dorf zum Dorftanz lief.
Die Nachricht von diesem Ereignis machte natürlich in solch kleinem Dorfe schnell die Runde.
Ich empfand es zumindest nicht als unangenehm, von den Kumpels im Ort,
besonders natürlich von den Mädels, wegen meines Fußmarsches angesprochen zu werden.
Wenn ich heute alte Freunde in diesem Dorf besuche, lachen wir immer noch darüber.
Klar, wollt Ihr wissen, was mit den 50 Mark passiert ist:
Wir haben sie gemeinsam auf den Kopf geklopft.
Ach so, wie ich wieder nach Leipzig gekommen bin?
Nein, nicht zu Fuß, ganz einfach auf dem hinteren Teil der Sitzbank des Mopeds 'Schwalbe' vom Karl-Heinz.
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